Von der Internationale zur Völkerfreundschaft? Kommunismus und Transnationalität im 20. Jahrhundert

Von der Internationale zur Völkerfreundschaft? Kommunismus und Transnationalität im 20. Jahrhundert

Veranstalter
Dr. Marcel Bois (Forschungsstelle für Zeitgeschichte, Hamburg), PD Dr. Christian Dietrich (Institut für Landesgeschichte, Halle/Saale), Rhena Stürmer, M.A. (Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder) in Kooperation mit dem Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung
Veranstaltungsort
Europa-Universität Viadrina
Gefördert durch
Gerda-und-Hermann-Weber-Stiftung in der Bundesstiftung Aufarbeitung
PLZ
15230
Ort
Frankfurt (Oder)
Land
Deutschland
Findet statt
In Präsenz
Vom - Bis
12.06.2024 - 14.06.2024
Deadline
01.07.2023
Von
Marcel Bois, Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg

Transnationale und globale Perspektiven waren für die kommunistische Bewegung von Beginn an von zentraler Bedeutung. Mit dem Aufschwung der Globalgeschichte und der postcolonial studies erfahren sie in der historischen Kommunismusforschung wieder mehr Aufmerksamkeit. Globalen Verflechtungen, transnational agierenden Akteur:innen sowie transnationalen Praktiken widmet sich auch die 6. Hermann-Weber-Konferenz zur Historischen Kommunismusforschung.

Von der Internationale zur Völkerfreundschaft? Kommunismus und Transnationalität im 20. Jahrhundert

Ausgehend vom revolutionären Russland und mit dem Ziel der Weltrevolution baute die 1919 gegründete Kommunistische Internationale (Komintern) einen global agierenden Apparat auf. Dessen Funktionärinnen und Funktionäre bewegten sich mit großer Selbstverständlichkeit über politische und geografische Grenzen hinweg. „Das 20. Jahrhundert kannte wohl keine zweite Organisation und soziale Bewegung, die zugleich in ihrer Rhetorik derart international, in ihren Praktiken derart transnational und in ihrer Zielsetzung derart global ausgerichtet war“, betonte jüngst die Historikerin Brigitte Studer. In den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg galt die „Weltrevolution“ zunächst als ein realistisches Nahziel. Dies änderte sich Mitte der 1920er-Jahre. Mit Stalins Losung vom „Aufbau des Sozialismus in einem Land“ gab die Komintern die Parole von der „Weltrevolution“ zwar nicht auf, ihr diesbezügliches Agieren wurde aber immer stärker zur Folklore. Sie diente nun zunehmend den nationalen Interessen der Sowjetunion. Gleichwohl blieb Transnationalität auch in den kommenden Jahrzehnten erfahrbare Praxis für viele Kommunistinnen und Kommunisten. In der Zwischenkriegszeit kamen sie nicht nur bei Konferenzen oder in den Metropolen des politischen Exils zusammen, auch der Kampf der Internationalen Brigaden in Spanien hatte eine transnationale Dimension.

Die Auflösung der Komintern im Jahr 1943 und die Systemkonfrontation nach dem Zweiten Weltkrieg veränderten die Art der transnationalen Kontakte. Einige Kommunistinnen und Kommunisten siedelten zwar in die neu entstandenen „realsozialistischen“ Staaten über, häufig kamen westeuropäische Genossinnen und Genossen jedoch nur temporär dorthin, etwa als Delegierte bei offiziellen Anlässen oder um Lehrgänge an Parteihochschulen zu besuchen. Einerseits boten diese Aufeinandertreffen Möglichkeiten, kommunistische Regime aus eigener Anschauung kennenzulernen sowie Gleichgesinnten aus anderen westlichen Ländern zu begegnen. Andererseits barg die Zusammenkunft mit Kommunistinnen und Kommunisten jenseits des „Eisernen Vorhangs“ ein subversives Potenzial. Detlef Siegfried wies jüngst auf dieses Spannungsfeld hin. Die von ihm untersuchte FDJ-Jugendhochschule „Wilhelm Pieck“ war auf der einen Seite ein Ort „alternativer Globalisierung“, auf der anderen Seite sollte ein zu intensiver, spontaner Kontakt zwischen den internationalen Gästen und der Bevölkerung des Gastgeberlandes verhindert werden.

Die Konferenz thematisiert den Wandel von Transnationalität und transnationaler Verflechtung in kommunistischen Bewegungen und Regimen für das „kurze 20. Jahrhundert“ (1917–1989/90). Ihr liegt folgende These zugrunde: Aus einer übernationalen Zusammenarbeit wurden internationale Beziehungen, die an ethnisch abgeschlossenen Entitäten ausgerichtet waren. Völkerfreundschaft ersetzte die Internationale.

Im Fokus stehen dabei die folgenden Fragenkomplexe:

1. Kulturelle Praxis: Welche Sicht entwickelten die Akteurinnen und Akteure auf ihre „Gastländer“? Hielten sie ihre Erlebnisse fest? Wie nahmen sie habituelle Unterschiede und Differenzen in den politischen Kulturen wahr, etwa zwischen staatskritisch und oppositionell geprägten Aktivisten Westeuropas und staatstragenden Funktionären aus realsozialistischen Ländern? Beeinflussten diese Erfahrungen ihre eigenen Haltungen? Veränderten Begegnungen mit Gesinnungsgenossinnen und -genossen aus anderen Ländern den weiteren politischen Lebensweg? Wenn ja, in welcher Weise?

2. Strukturbildung: Wie gestaltete sich die Zusammenarbeit über Landesgrenzen hinweg? Welche Konflikte traten dabei auf? Inwieweit übernahm man politische Konzepte oder Praktiken aus anderen Ländern? Wie wurde Zusammenarbeit auf internationaler Ebene institutionalisiert? Lassen sich „transnationale“ Strukturbildungsfaktoren identifizieren? Wie gingen die Protagonistinnen und Protagonisten beispielsweise mit Sprachbarrieren um?

3. Räume: An welchen konkreten Orten fanden transnationale Begegnungen und Interaktionen statt? Entfalteten die dort entstandenen Kontakte und Netzwerke eine Langzeitwirkung? Welche Bedeutung erlangten Knotenpunkte des Exils oder Räume der stalinistischen Verfolgung für die transnationale Geschichte?

4. Stereotypisierung: Wie wurde nach 1945 jenen begegnet, die sich in transnationalen Netzwerken bewegt hatten? Wie wurden in den Ländern des sogenannten Ostblocks Auslandskader gesehen? Ging mit dem Konzept der Völkerfreundschaft ein Anwachsen nationalistischer Stereotypen einher? Wie veränderte die Vorstellung eines revolutionären Patriotismus den transnationalen Austausch?

5. Methode: Welche transnationalen Fragestellungen und Methoden, die sich produktiv auf die Geschichte der kommunistischen Parteien und ihrer Akteurinnen und Akteure anwenden lassen, entwickelte die Geschichtswissenschaft?

Beitragsvorschläge von 1.500 bis 2.000 Zeichen und ein kurzer C.V. werden in deutscher oder englischer Sprache bis zum 1. Juli 2023 an chdietrich@europa-uni.de erbeten. Ausdrücklich gewünscht sind auch Beiträge zu dissidenten Akteur:innen des Kommunismus und zu Strömungen, die sich an China, Jugoslawien, Albanien oder den nationalen Befreiungsbewegungen in Asien, Lateinamerika oder Afrika orientierten. Eine Benachrichtigung über die Auswahl erfolgt bis Mitte August.

Die 6. Hermann-Weber-Konferenz wird vom 12. bis 14. Juni 2024 an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) stattfinden. Reise- und Übernachtungskosten werden erstattet. Die Konferenzsprachen sind Deutsch und Englisch. Erwartet wird die Fertigstellung der Beiträge bis vier Wochen vor Konferenzbeginn, damit sie allen Teilnehmenden vorab zur Verfügung gestellt werden können. Ausgewählte Beiträge werden in überarbeiteter Fassung auf Deutsch im Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung publiziert (Übersetzungsmittel stehen zur Verfügung). Mit der Bewerbung wird die Bereitschaft vorausgesetzt, einen Beitrag zur Begutachtung für diese Publikation einzureichen.

From the International to Friendship of Peoples? Communism and Transnationality in the 20th Century

Transnational and global perspectives have been of key importance to the communist movement from the outset. With the rise of global history and postcolonial studies, they are also receiving greater attention within the field of historical research on communism. The 6th Hermann Weber Conference on Historical Communism Research is devoted to global connections, transnationally active actors and transnational practices. Founded in revolutionary Russia in 1919 with the aim of promoting world revolution, the Communist International or Comintern built up a globally active apparatus. Its functionaries moved across political and geographical borders as a matter of course. As historian Brigitte Studer has recently noted: "The 20th century probably saw no other organisation or social movement that was as international in its rhetoric, as transnational in its practices and as global in its objectives." During the years immediately following the First World War, "world revolution" was considered a realistic short-term goal. This changed during the mid-1920s. Stalin's slogan of "building socialism in one country" did not see the Comintern abandoning the watchword of "world revolution", though its actions in this regard assumed an increasingly folkloristic character. The Comintern now largely catered to the national interests of the Soviet Union. Transnationality nevertheless remained a tangible practice for many communists in the decades to come. During the interwar period, they not only congregated at conferences or in the metropolises of political exile; there was also the struggle of the International Brigades in Spain, which had a clear transnational dimension.

The dissolution of the Comintern in 1943 and the confrontation of political and economic systems following the Second World War altered the nature of transnational contacts. Although some communists moved to the new "real socialist" states, Western European comrades often only visited there, as delegates at official events or to attend seminars at party universities. On the one hand, such meetings provided an opportunity to gain first-hand familiarity with communist regimes and meet like-minded people from other Western countries. On the other hand, meeting communists on the other side of the "Iron Curtain" was also a potentially subversive act. Detlef Siegfried has recently drawn attention to this tension. The Free German Youth College "Wilhelm Pieck", examined by Siegfried, was a site of "alternative globalisation", though efforts were also made to prevent close, spontaneous contact between the international guests and the population of the host country.

The conference addresses the transformation of transnationality and transnational interdependence in communist movements and regimes during the "short 20th century" (1917–1989/90). Its guiding hypothesis is that an initial supranational cooperation yielded over time to international relations based on ethnically self-contained entities. Friendship between peoples replaced the International.

The focus will be on the following questions:

(1) Cultural practice. What view did people develop of their "host countries"? Did they record their experiences? How did they perceive habitual differences and differences of political culture, e.g. between Western European activists who were critical of the state and oppositional on the one hand and state-supporting functionaries from real socialist countries on the other? Did these experiences influence people's attitudes? Did encounters with like-minded people from other countries change the further course of their political lives? If so, in what way?

(2) Structure building. How did cooperation across national borders develop? What conflicts developed? To what extent were political concepts or practices adopted from other countries? How was cooperation institutionalised on the international level? Can "transnational" structural factors be identified? How did people deal with language barriers, for example?

(3) Spaces. In which concrete places did transnational encounters and interactions occur? Did the contacts and networks that developed there have long-term consequences? What significance did diasporic hubs or spaces of Stalinist persecution acquire for transnational history?

(4) Stereotyping. What approach was taken, after 1945, to persons who had been active in transnational networks? How were foreign cadres viewed in the countries of the so-called Eastern Bloc? Was the concept of friendship between peoples associated with the spread of nationalist stereotypes? How did the notion of revolutionary patriotism affect transnational exchange?

(5) Method. What transnational questions and methods that can be productively applied to the history of the communist parties and their actors has historical scholarship developed?

Please send a proposal (1,500 to 2,000 characters) and a short CV (German or English) to chdietrich@europa-uni.de by 1 July 2023. Contributions on dissident actors within communism and on currents associated with China, Yugoslavia, Albania or the national liberation movements of Asia, Latin America and Africa are welcome. Notification of selection will be made by mid-August.

The 6th Hermann Weber Conference will take place from 12 to 14 June 2024 at the European University Viadrina in Frankfurt/ Oder. Travel and accommodation costs will be reimbursed. The conference languages are German and English. Papers are expected to be completed four weeks before the start of the conference so that they can be made available to participants in advance. Selected papers will be published, in revised form and in German, in the Jahrbuch für Historische Kommunismusforschung (funds for translation are available). Application implies the willingness to submit a paper to this publication for peer review.

Kontakt

E-Mail: chdietrich@europa-uni.de

Redaktion
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Sprach(en) der Veranstaltung
Englisch, Deutsch
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